2. gemeinsamer Bildungskongress der Lehrerverbände im dbb Niedersachsen/
Gewaltprävention und Demokratieverständnis stärken
Die Zahlen der neusten Forsa-Umfrage unter Lehrkräften spiegeln ein gesellschaftlich bedenkliches Bild wider: 84 % der Befragten beklagen eine zunehmende Verrohung. 79 % halten den Staat nur noch für eingeschränkt handlungsfähig. Und 30 % haben im Arbeitsalltag schon psychische und physische Gewalt erfahren. Zahlen, mit denen Alexander Zimbehl als Landesvorsitzender des dbb Niedersachsen beim zweiten gemeinsamen Bildungskongress der Lehrerverbände im dbb vor 150 Verbandlern im Maritim Airport Hotel in das Thema des Tages einstieg: Zunehmende Gewalt an Schulen und schwindendes Demokratieverständnis – wie damit umgehen?
„Das Problem ist bundesweit riesengroß. Wobei sich die Gewalt verlagert hat und zunehmend die Lehrkräfte ins Visier geraten. Jahrelang wurde die Entwicklung totgeschwiegen, weil man um den guten Ruf der Schule fürchtete und Attacken auf Lehrkräfte runtergespielt wurden. Infolgedessen gibt es keine validen Daten, die das Phänomen untermauern könnten“, sagte Bodo Pfalzgraf, Vorsitzender der DPolG in Berlin, und betonte: „Wir schätzen, dass rund 80 % aller im öffentlichen Dienst Beschäftigten im Arbeitsalltag schon einmal Gewalt erfahren haben.
Er forderte von der Politik über alle Landesgrenzen hinweg gleiche Notfallpläne und Rahmendienstvereinbarungen sowie eine klare Definition, wo Gewalt anfängt, auf die Schule mit ordnungsrechtlichen Möglichkeiten dann auch reagieren muss. „Wichtig ist, die Lehrkräfte fit zu machen, um mit der bedrohlichen Situation deeskalierend umgehen zu können. Da muss es ganz gezielte Fortbildungen geben“, sagt Pfalzgraf in seinem Impulsvortrag.
Prof. Dr. Andreas Petrik vom Institut für Soziologie der Universität Halle, stieg mit einem Parforceritt durch die multiplen Krisen dieser Zeit und deren Wirkung auf Jugendliche ein. „Alle Jugendstudien, die seit Corona veröffentlicht wurden, sprechen von Vertrauensverlust und Zukunftsangst unter der jungen Generation. Immer weiter steigende Mieten, eine zunehmende Arbeitslosigkeit, explodierende Lebenshaltungskosten, daraus erwachsende Existenzängste, Politikversagen, Kriege, Krisen – all das hinterlässt Spuren und begünstigt den Werteverfall, weil Perspektiven ebenso wie Klarheit und Ordnung fehlen. Das ist der Nährboden für antidemokratische Kräfte, die in Teilen Gewalt als probates Mittel zum Zweck proklamieren.“
Wer sich abgehängt fühle und von Ohnmachtsgefühlen geprägt sei, sei empfänglich für Ersatznarrative und nationalistische Tendenzen. „Politische Bildungsstrategien, mit denen man dieser Entwicklung begegnen kann, sind Aufklärung und Faktencheck. Wenn jemand erst sagt, die Ausländer nehmen uns die Jobs weg, um dann in einem Atemzug zu behaupten, Ausländer seinen faul und liegen in der sozialen Hängematte, dann kann mindestens eine dieser diametralen Aussagen nicht stimmen. Wir brauchen neue demokratische Narrative und Gegenautoritäten für eine wehrhafte Demokratie mit klarer Kante. Das muss in Schule vermittelt werden und dafür braucht es die nötigen personellen und finanziellen Ressourcen. Und zwar schnell“, sagte Petrik, der zum Abschluss seines Impulsvortrags mit einem von ihm prognostizierten Ausgang der Bundestagswahl 2029 ein erschreckendes Szenario skizzierte: AFD 45 %, Union 14 %, Grüne 10 %, SPD 10 %, BSW 3 %, Linke 10 % und Sonstige 6 %. Die Mehrheitsschwelle läge demnach bei 44,5 %. Damit hätte die AFD die absolute Mehrheit.
Ein denkbares Ergebnis, für das es nur eine Initialzündung wie einen Bombenanschlag bedarf, das Julia Willie Hamburg aber nicht kommentieren wollte. Stattdessen sagte die Kultusministerin in ihrem Grußwort: „Gewaltfaktoren und Demokratiebildung muss man gemeinsam denken, weil sie ohnehin zusammengehören. Dass Sie als Lehrerverbände dieses gesellschaftlich relevante Thema gemeinsam angehen, ist großartig. Das Ministerium stärkt Ihnen den Rücken, damit Sie an der Front bestehen können – so martialisch muss man es schon formulieren – und wir werden zeitnah den neuen, deutlich verschlankten Gewaltpräventionserlass herausgeben. Es ist richtig, dass Lehrkräfte Fakenews mit fachlicher und sachlicher Aufklärung begegnen. Es ist sogar ihre Beamtenpflicht zu widersprechen, wenn antidemokratische und populistische Parolen die Runde machen.“
Niedersachsen habe 36 zusätzliche Schulpsychologenstellen geschaffen, bilde mentale Ersthelfer aus „und ich habe einen Ministerinnenbrief zum Thema Gewalt an Schulen und das beherzte Vorgehen dagegen verfasst, auf den Sie sich berufen können. Daneben gibt es praktische Handreichungen und Unterstützungsangebote“, sagte Hamburg und betonte: „Die Gewalt, die wir erleben, hat sich spürbar verändert. Mobbing und Amok-Drohungen, verbale Gewalt bis hin zur körperlichen Gewalt gegen Lehrkräfte sind erschreckende Entwicklungen, denen wir mit allen Möglichkeiten des Rechtsstaats begegnen müssen.“
In der anschließenden Podiumsdiskussion machte Dr. Florian Schröder (Jurist) klar: „Da, wo die Pädagogik an ihre Grenzen stößt, muss die Justiz übernehmen und sanktionieren. Denn Schule als solches hat nur sehr beschränkte ordnungsrechtliche Möglichkeiten. Wichtig ist auch, dass die Schulleitung einen breiten Rücken hat, sich vor das Kollegium stellt und dies motiviert, jede Form von Gewalt aufzuzeigen.“ Den neuen Gewaltpräventionserlass hält er aus juristischer Sicht für überflüssig, mental möge der ja helfen, weil man was in den Händen halte.
Christina Bornkessel, VBE-Personalrätin und Lehrerin an einer Brennpunktschule, berichtete von 3.164 verbalen Übergriffen an ihrer Oberschule in nur einem Jahr. „Die Belastungsgrenze ist bei uns längst überschritten und wir fühlen uns vom Ministerium im Stich gelassen, Wir brauchen keine 50-seitigen Handreichungen, für deren Lesen uns ohnehin die Zeit fehlt, sondern personelle und fachliche Unterstützung gutaufgestellter multiprofessioneller Teams.“
Ulf Jürgensen, Schulleiter der BBS Burgdorf und für den VLWN auf dem Podium, hat ein gutes multiprofessionelles Team an seiner Seite und ist dankbar dafür „Wichtig im Schulalltag ist der regelmäßige Austausch im Kollegium, um entstehende Probleme frühzeitig zu erkennen und entgegenwirken zu können, bevor sie aufpoppen.“, sagte Jürgensen, der vor Jahren präventiv gemeinsam mit der Schulsozialarbeit an seiner Schule ein Projekt aufgesetzt hat, das mittlerweile den Namen „CrimeEX“ trägt. Dabei kommen Straftäter auf Freigang in die Schule und zeigen angehenden „Systemsprengern“ auf, was die Konsequenz ist, wenn man im Leben falsch abbiegt. „Im Gegenzug besuchen die Schülerinnen und Schüler die Straftäter für einen Tag im Knast. Das sind prägende Erfahrungen, die die Bereitschaft, sich auf demokratischen Boden zu bewegen, schürt“, sagte Jürgensen.
Moderiert wurde die Podiumsdiskussion von Niklas Kleinwächter, Chefredakteur des Rundblick, der auch durch den Tag des 2. gemeinsamen Bildungskongresses der Lehrerverbände VBE, BLVN, phvn, VNL und VLWN gekonnt leitete. Stefan Schlutter