Prof. Dr. Dieter Euler – Uni St. Gallen – stellt im VLWN-Workshop die „Studienintegrierte Ausbildung“ vor
Die duale Berufsausbildung erodiert. Gerade in den kaufmännischen und gewerblich-technischen Berufen gehen die Ausbildungszahlen signifikant zurück, wodurch sich der ohnehin schon dramatische Fachkräftemangel weiter verschärft. Zeitgleich kommen immer mehr junge Menschen an die Hochschulen und Universitäten, an denen die Hörsäle überquellen und gleichzeitig die Zahlen der Studiengangwechsler sowie der Studienabbrecher zunehmen – kein neues Phänomen, aber in der Sache ein wachsendes Problem.
Vor diesem Hintergrund machte sich bereits in 2014 ein Team von (Berufs-)Bildungsexperten, zu denen auch Vertreter der Bertelsmann Stiftung gehörten, zusammen mit Prof. Dr. Dieter Euler, Wirtschaftspädagoge an der Universität St. Gallen, auf den Weg, um neue berufliche Bildungswege zu entwickeln, für die eine enge Verzahnung mit einer hochschulischen Ausbildung bei einer gleichzeitig hohen Flexibilität für die Auszubildenden bzw. Studierenden charakteristisch sein sollte. Das Ergebnis ist das sog. Hamburger Modell mit einer „Studienintegrierten Ausbildung“, an deren Ende nach vier Jahren der Abschluss einer dualen Berufsausbildung oder der Bachelor-Abschluss der Beruflichen Hochschule oder beide Abschlüsse stehen können.
Diese „Studienintegrierte Ausbildung“, bei der man das Studium in die Berufsausbildung integriert – und das ist ein entscheidendes Spezifikum des Hamburger Modells – wird seit 2021 in Hamburg angeboten. Leicht modifiziert und auf die Bedürfnisse eines Flächenlandes abgestimmt, wird es auch in NRW umgesetzt, um der wachsenden Akademisierung zu begegnen und die berufliche Bildung zu stärken. Der elementare Unterschied zum Dualen Studium ist darin zu sehen, dass die jungen Menschen im Hamburger Modell in den ersten 12 bis 18 Monaten ihrer Ausbildung bzw. ihres Studiums eine durch Coaching begleitete (Findungs-)Phase durchlaufen und erst danach entscheiden, ob sie die studienintegrierte Ausbildung fortsetzen und damit beide Abschlüsse anstreben oder nur eine Berufsausbildung oder alternativ das Studium wählen. Ein solches Modell, das nicht nur für die Schülerinnen und Schüler, sondern auch für die beruflichen Schulen hoch interessant ist, war Anlass für den VLWN, Prof. Dr. Euler einzuladen. Das Modell wurde in Hannover Mitte November diskursiv erläutert und im Dialog mit einem kleinen Kreis ein Modelltransfer auf Niedersachsen angedacht.
Denn: „Der Azubi-Rückgang gerade bei den kaufmännischen Berufen ist dramatisch. Wenn die berufsbildenden Schulen nicht zu Restschulen verkommen sollen, bei denen gleichzeitig die Zahl der Einstiegklassen ständig steigt, muss die duale Berufsausbildung attraktiver werden – vor allem für junge Menschen mit einer Hochschulzugangsberechtigung, die als qualifizierte Fachkräfte am Arbeitsmarkt nach der Ausbildung händeringend gesucht werden“, sagte Joachim Maiß in seiner Anmoderation.
Die Leitfrage, mit der das Team um Prof. Dr. Euler an den Start ging, lautete: Wie kann bei zunehmender Akademisierung die Berufsbildung durch innovative Formen der Verzahnung von beruflicher und akademischer Bildung so gestärkt werden, dass individuelle Bildungsbedürfnisse und Fachkräftebedarfe befriedigt werden?
Hinter dieser Fragestellung steht die Idee, durch besondere Modelle die duale Berufsausbildung im oberen Segment der deutschen Bildungslandschaft zu verankern und damit die weitere Erosion der beruflichen Bildung zu verhindern.
Ein Kernproblem sei, so Euler weiter, dass die jungen Menschen mit Hochschulzugangsberechtigung sich angesichts der Fülle an Qualifizierungsmöglichkeiten schwer täten zu entscheiden, welchen Bildungsweg sie einschlagen sollten. In dieser Situation würde dann nur allzu oft der (vermeintlich) höchstmögliche Bildungsgang gewählt, den der Schulabschluss hergäbe, und das sei dann vielfach der akademische Weg. Dadurch würden automatisch auch die Abbrecher- und Wechslerzahlen zunehmen, skizzierte Prof. Dr. Euler und sagte: „Das gilt auch bei den Dualen Studiengängen, weil man sich, noch bevor man gestartet ist, für einen bestimmten Abschluss entscheiden muss. Wenn man dann feststellt, dass der eingeschlagene Weg doch nicht passt, wird das Studium abgebrochen, mit allen Folgen, die damit verknüpft sind. Von daher haben wir bei der studienintegrierten Ausbildung den Ansatz umgedreht, den Schwerpunkt auf die berufliche Bildung gelegt und sie mit der akademischen Bildung zu einem kohärenten Bildungsgang verzahnt. Gleichzeitig bieten wir damit den Jugendlichen eine erfahrungsbasierte Bildungsentscheidung und begegnen der Orientierungsproblematik der jungen Menschen. Denn erst während der implementierten 12- bis 18-monatigen (Findungs-)Phase, die sich dadurch auszeichnet, dass sie durch ein spezifisches Coaching begleitet ist, entscheiden sie, wohin ihre `Reise` geht. Das vermindert das Risiko von Ausbildungs- und Studienabbrüchen. Mit der studienintegrierten Ausbildung bietet die berufliche Ausbildung ein passgenaues Angebot für leistungsfähige Jugendliche, sichert sie damit für die berufliche Ausbildung, begegnet der Akademisierung und generiert hoch qualifizierte Fachkräfte“.
Das „Hamburger Modell“ ist in seiner Form auf einen Stadtstaat zugeschnitten und lässt sich als Blaupause andernorts so nicht umsetzen. Das hat viel mit den kurzen Wegen in einem Stadtstaat zu tun. Treiber in Hamburg waren der damalige Geschäftsführer des Hamburger Instituts für Berufliche Bildung (HIBB) und heutige Staatsrat Rainer Schulz sowie Ties Rabe als Senator für Schule und Berufsbildung. Eingebunden waren darüber hinaus alle Stakeholder von den Wirtschaftsverbänden bis zu den Kammern. Dadurch gab es ein klares Pro für das neue Modell. Die Etablierung wurde durch ein professionelles Bildungsmarketing flankiert; damit wurden alle Akteure dort abgeholt, wo sie standen.
Zentral für das Gelingen eines solchen Qualifizierungsprogramms ist die enge curriculare Abstimmung der Ausbildungs- und Studieninhalte zwischen den beteiligten Berufsschulen und der Beruflichen Hochschule. Das ist schon deshalb unabdingbar, weil einzelne Module, die an der Berufsschule unterrichtet werden, auf das Studium angerechnet werden. Dies bedeutet gleichzeitig eine Anhebung der berufsschulischen Lehrinhalte auf DQR-6-Niveau. 60 der 180 Creditpoints, die es für den Bachelor-Abschluss braucht, werden an der Berufsschule erreicht. „Das führt zur Aufwertung der beruflichen Bildung bei gleichzeitiger Partizipation“, sagte Prof. Dr. Euler.
Ein weiterer entscheidender Vorteil der studienintegrierten Ausbildung ist, dass die jungen Menschen in nur vier Jahren eine Doppelqualifizierung erlangen. Im Vergleich zum Studium nach der Ausbildung wird so die Gesamtausbildungszeit deutlich reduziert. „Drei Lernorte zu haben, ist zwar komplex, aber auch multiperspektivisch, abwechslungsreich und herausfordernd“, so Prof. Dr. Euler. Im Gegensatz zum Dualen Studium, das vor allem von Großunternehmen angeboten wird, ist das Hamburger Modell auch für KMU zugänglich, was für die Fachkräftegewinnung elementar ist.
Weil sich in Hamburg keine Partnerhochschule finden ließ, die willens war, den neuen Weg mit zu beschreiten, entschied der damalige Regierende Bürgermeister Olaf Scholz 2017 kurzerhand, dass eine berufliche Hochschule gegründet wird. 2021 startete das Projekt mit Schwerpunkt BWL und Informatik. Fünf Bildungsgänge wurden eingerichtet. 100 Bank- und Marketingkaufleute und Fachinformatiker und Co. starteten ihre Ausbildung, von denen sich 10 Prozent nach Ablauf des ersten Jahres für die rein berufliche Ausbildung entschieden. Die übrigen 90 Prozent fahren zweigleisig weiter. In diesem Jahr sind 130 im zweiten Stepp hinzugekommen.
In Nordrhein-Westfalen begeisterten sich anfangs 30 von 300 Berufskollegs für das Modell. Am Ende blieben vier Standorte übrig, die schon Erfahrungen mit Dualen Studiengängen hatten. Davon starteten drei, weil in einem Fall die Kooperation mit einer privaten Fachhochschule Studiengebühren nach sich gezogen hätte, die die Betriebe nicht bereit waren zu tragen. Mittlerweile sind sieben weitere Standorte hinzugekommen, die sich jeweils eine standortnahe Partnerhochschule gesucht haben.
Auch in Niedersachsen gibt es zahlreiche berufsbildende Schulen, die in eigener Regie Kooperationen mit Hochschulen eingegangen sind und Ausbildungspartner für duale Studiengänge sind. Um die studienintegrierte Ausbildung als Modell zu verankern, bedarf es aber erst einmal der politischen Entscheidung und darüber hinaus müssen alle relevanten berufsbildungspolitischen Akteure für diese Idee gewonnen werden. „Das im Koalitionsvertag der neuen Niedersächsischen Landesregierung festgeschriebene ProReKo 2.0 bietet hier einen breiten Gestaltungsraum, in den sich viele notwendige Aspekte verankern ließen“, sagte Maiß und betonte: „Entscheidend ist, dass man die schlagenden Vorteile des Modells über die richtigen Kanäle kommuniziert. Und angesichts der belegbaren Erfahrungen aus Hamburg und NRW, wonach die Kosten für ein solches Modell sehr überschaubar sind, kann es kaum Widerspruch geben – zumal die berufliche Bildung damit langfristig deutlich gestärkt würde.“ Sein Appell: „Lasst uns starten und in die Zukunft der dualen Berufsausbildung aufbrechen.“