Mehr Berufsorientierung ist notwendig

Einmal über den Tellerrand geschaut und Positivbeispiel gefunden: VLWN liefert Impulse

 

Eine Woche lang Berufsalltag schnuppern und täglich die Branche wechseln: Montags eine Wand mauern, dienstags eine Bank tischlern, freitags das Fahrrad reparieren. Bei den Praktikumswochen in Baden-Württemberg können junge Leute diesen April wieder bis zu fünf Berufe innerhalb einer Woche kennenlernen – und sich so für eine duale Ausbildung begeistern. „Ein Positivbeispiel für gelebte Berufsorientierung. Natürlich kann man binnen eines Tages nur sehr oberflächlich in einen Beruf hineinschnuppern. Andererseits reicht die Zeit möglicherweise, um festzustellen, welcher der Probetage am meisten Spaß gemacht hat und welcher Job am ehesten den persönlichen Interessen und Fähigkeiten entspricht“, sagt Joachim Maiß, VLWN-Vorsitzender.

Dass die Berufsorientierung in der Vergangenheit eher stiefmütterlich betrieben wurde, die Politik in Niedersachen entschieden hat, hier aktiv entgegenzuwirken und Berufsorientierung selbst in den Gymnasien verankern und viel früher damit beginnen will, ist aus Sicht der Berufsbildner ein Anfang. Doch das Problem ist – wie so oft – viel vielschichtiger.

„Wir haben gut 320 Lehrberufe. Dem stehen gut 22 000 Studiengänge gegenüber. Da hat es die Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung an sich schon schwer. Hinzu kommen gängige Narrative, z.B. dass man nur mir dem Studium Karriere machen kann. Weshalb immer mehr junge Menschen an die Universitäten in überfüllte Hörsäle drängen, während Ausbildungsstellen unbesetzt bleiben. Wer sich dann doch für eine duale Ausbildung entscheidet, wählt zumeist einen der zehn gängigsten Berufe, für die sich schon die Elterngeneration entschieden hat. Weil die anderen Berufe im Alltagsleben kaum mehr vorkommen und sie deshalb wenig bis gar nicht bekannt sind“, skizziert Maiß die Breite des Themenfeldes, das beackert werden will.

Darum ist es essenziell, die unterschiedlichen Berufsbilder wieder bekannter zu machen und die Vielfalt abzubilden. Ein möglicher Weg dazu könnte sein, Handwerk und Co. aus der Peripherie zurück in die Innenstädte zu holen, die Berufe zum „Anfassen“ fußläufig zu präsentieren und darüber dafür zu begeistern. Gleichzeitig kann man auf dem Wege Leerstand begegnen und Innerstädte attraktiver machen. Das wäre dann auch Wirtschaftsförderung an der Basis, um die Nachwuchskräfte am Standort zu halten. „Konzepte dazu gibt es“, sagt Maiß.

Um junge Menschen für eine berufliche Ausbildung zu gewinnen, müssen deutlich mehr Praktika angeboten werden. Eine Forderung, die auch beim 2. UVN-Bildungs-Summit unlängst gestellt wurde – verknüpft mit der Forderung, dass Betriebe in die Schulen kommen, sich mit Lehrinhalten einbringen und Schnuppertage respektive -wochen in den Unternehmen anbieten.

Dass die Wirtschaft sich mittlerweile aktiv einbringt und auch politisch Druck aufbaut, die berufliche Bildung zu stärken und deutlicher in den Fokus zu rücken, erklärt sich durch den bedrohlichen Fachkräftemangel, der der deutschen Wirtschaft trotz schwächelnder Konjunktur mächtig zusetzt. „Entscheidender aber noch ist, mit dem Zerrbild aufzuräumen, wonach eine duale Berufsausbildung zweitklassig sei. Dass man als hervorragend ausgebildeter Facharbeiter ein gefragter Experte sein kann, der, wenn es um die Karriere geht, in einem Unternehmen vielerorts deutlich mehr verdienen kann, als ein Akademiker, hat sich in der öffentlichen Wahrnehmung noch nicht herumgesprochen. Ergo gibt es auch keinen Kurswechsel im Entscheidungsprozess zwischen Uni und Betrieb“, sagt Maiß.
Stefan Schlutter

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